Autobiographien als Quelle

Essay by gigga October 2006

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Autobiographien als Quelle

1 Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 3

2 Definition und Einordnung in der Literatur 3

3 Ähnliche Literaturgattungen 7

4 Autobiographie als Quelle 9

5 Beispiel einer gefälschten Autobiographie 13

6 Quellen 15

2 Einleitung

In den letzten zwanzig Jahren ist das Interesse von Literaturwissenschaftler, Sozialhistorikern und Anthropologen an autobiographischen Schriften sprunghaft angestiegen und hat zu einer kaum noch überschaubaren Zahl von Aufsätzen, Sammelbänden und Monographien geführt. Fast jeder von uns hat im Laufe seines Lebens einmal eine Autobiographie gelesen. Ob es nun eine Autobiographie eines Prominenten, eines Politikers oder eines KZ-Häftlings sei, der Autor erzählt darin seine Lebensgeschichte.

Will man nun so eine Autobiographie als Quelle verwenden, muss man einige Besonderheiten bei der Interpretation bezüglich Glaubhaftigkeit, Erinnerungsverzerrung und Authentizität bedenken. Diese Seminararbeit soll zuerst einen Überblick über den Begriff Autobiographie und die literarische Einordnung geben und dabei helfen, die Autobiographie als Quelle kritisch zu analysieren. Den Abschluss soll ein Beispiel einer gefälschten Autobiografie bilden.

3 Definition und Einordnung in der Literatur

Die Autobiographie gehört zu den schriftlichen Quellen, die eigens und absichtlich zum Zwecke der Unterrichtung geschaffen worden sind. Genauer lässt sich die Autobiographie zu den Ego-Dokumenten einordnen. Ein Ego-Dokument ist eine Quelle, in der ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig oder durch andere Umstände bedingt geschieht.

Die Autobiographie selbst ist die Darstellung des eigenen Lebens. Der Autor beschreibt sein Leben von der Geburt bis zum Zeitpunkt der Niederschrift.

Die Typische Lebensgeschichte einer Autobiographie lässt sich in Folgende Lebensabschnitte unterteilen:

Kindheit, Elternhaus, Geschwister

Schulzeit

Jugend, Berufsausbildung

Jung. Erwachsene

Zeit d. Familiengründung

Nachelterliche Gefährtenschaft

Ältere/-er ArbeitnehmerIn

Übergang ins Rentenalter (evtl. mit voriger Phase zusammengefasst)

Witwenschaft (häufig bei Frauen)

Hochaltrigkeit

Meistens sind es Prominente, die ihrem Leben rückwirkend durch literarische Selbstzeugnisse einen tiefern Sinn verleihen. Je unbekannter der Autor einer Autobiographie ist, desto bedeutsamer muss die erzählte Lebensgeschichte für die gesellschaftliche Masse sein. Für die Geschichte der Literatur - im Besonderen für die fiktionale Literatur und deren Verhältnis zur Realität - ist kaum etwas von größerem Interesse als diese schriftlichen Selbstzeugnisse, die sich z.B. in Autobiographien, Memoiren oder Tagebucheinträgen zeigen.

Anders als im Roman, sind Autobiographien durch Berichte über die real-historische Welt rückgebunden an den Autor. Der Autor einer Autobiographie belegt dabei eine textliche Doppelung. In der Autobiographie wird durch die Erzählführung eine eigene narrative Welt des Erzählens erschaffen. Diese Erzählweise besitzt eine starke Anlehnung an die empirische Welt, verfügt aber dennoch über Bruchstellen zwischen der Wirklichkeit und der Erzählung im Text.

Während in Biografien im Allgemeinen eine Vielzahl von Dokumenten, Geschichten und verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigt werden, vermag eine Autobiographie allein auf der Selbsterkenntnis einer Person beruhen. Die Geschichte des eigenen Lebens wird sowohl aus einer subjektiven als auch aus einer objektiven Sichtweise dargestellt.

Eine Autobiographie hat einen doppelten Anspruch: Einerseits soll sie die historische Wirklichkeit vermitteln, andererseits stellt sie ein literarisches Kunstwerk dar. Die Autobiographie stellt somit eine Randposition der literaturwissenschaftlichen Fragestellungen dar, da sie zwischen Geschichte und Literatur steht. Dennoch betrifft sie aus systematischen Gründen die Kernbereiche der Literaturwissenschaft. Autobiographien stellen den Anspruch auf die historische Realität, auch eine so genannte "Wirklichkeit", dies macht die Autobiographie zu einem referentiellen Text.

Andererseits ist es auch offenkundig, dass die Autobiographie diesem Anspruch nicht genügen kann, da der objektiven Berichterstattung, die subjektive Autorposition gegenüber steht. Es ist offensichtlich, dass niemand in der Lage ist, die subjektive Wahrnehmung hinter sich zu lassen.

Von besonders wichtiger Bedeutung bei der Untersuchung autobiographischer Texte ist der Anspruch auf Authentizität und Objektivität. Schildert der Autor in seiner Erzählung ausschließlich erfundene Welt, handelt es sich um keine Autobiographie mehr. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass Autobiographien einerseits vom kulturellen Gedächtnis, andererseits jedoch vom persönlichen Erinnerungsvermögen des Autors geprägt werden und bei der Widergabe des Erlebten mit Erinnerungslücken gerechnet werden muss. Das mag an der Tatsache liegen, dass der häufigste Ausgangspunkt zur Entstehung eines autobiographischen Textes eine Extremsituation umfasst, die den Autor in seinem Wesen und der Bildung seines Selbst fordert, wenn nicht gar überfordert. Krankheit, Lebenskrise, Pubertät oder die Auseinandersetzung mit Tod und Alter können so eine Extremsituation darstellen. Damit erklärt sich auch eines der letzten Merkmale der Autobiographie, das ich an dieser Stelle nennen möchte: Die starke Zeitraffer-Funktion, bei der einzelne Augenblicke eines Lebens herausgehoben und mit der Frage der Herkunft und den Wurzeln von Text und Autor verbunden werden.

Die Autobiographie ist die Rekonstruktion des eigenen Lebens oder eines Lebensabschnitts. Das "Ich" steht im Mittelpunkt und der Autor gibt die Vergangenheit wieder von einem Standpunkt der Gegenwart. Allein er bestimmt die Auswahl dessen, was er für erwähnenswert hält. Bei der einfachsten Form der Autobiographie wird äußeres Geschehen aneinandergereiht. Eine Autobiographie kann Bildungs- und Entwicklungsgeschichte der eigenen Person sein und kann Rechtfertigung sein oder Beichtcharakter haben.

Bei der Autobiographie als Entwicklungsgeschichte wird das eigene Leben in einem größeren Zusammenhang gesehen und dadurch wird es zum zeit- und kulturgeschichtlichen Dokument. Ein Beispiel hierfür wäre Goethes »Dichtung und Wahrheit«. Ursprünglich sollte Goethe darstellen, wie und wann die einzelnen Dichtungen entstanden waren. Jedoch führte die Besinnung auf die formenden Einflüsse zu einer tieferen Einsicht in das eigene Leben und in die Wechselwirkung zwischen angeborenem Charakter und den Umständen.

Eine weitere Kategorie ist die Autobiographie mit sozialen Aspekten welche ein Versuch ist, sich im Rahmen der sozialen Bezüge zu sehen. Sie geht auf die Zeit der Aufklärung zurück.

Die Autobiographie des 19. Jahrhunderts steht im Zeichen des Historismus. Unter dem Einfluss der Industrialisierung zerfallen die alten sozialen Gemeinschaften, die Sitten und die Verhaltensweisen. Unser Jahrhundert hat eine Flut von Autobiographien von Verbannten, Flüchtlingen und Emigranten gebracht als Ergebnis der Weltkriege, Bürgerkriege und Revolutionen, in denen die Verfasser ihre Position vertreten und rechtfertigen.

4 Ähnliche Literaturgattungen

Um die Vielzahl von Texttypen deutlicher voneinander unterscheiden zu können, ordnet sie die Literaturwissenschaft in Gattungen ein. Diese literarischen Gattungen dienen als Orientierungsleistung, führen jedoch das Problem mit sich, dass sie einzelne textliche Eigenarten verdecken oder nur ungenügend behandeln.

Am wenigsten deutlich ist die Grenze zwischen Autobiographie und Memoiren, denn beide stellen persönliche Erlebnisse chronologisch dar und reflektieren sie. Der Verfasser konzentriert sich aber stärker auf die Menschen, denen er begegnet ist, als auf sich selbst. Die Memoiren unterscheiden sich insofern von der Autobiographie, indem der Erzähler und Hauptfigur nicht identisch sind. Memoiren schildern das Erleben eines Individuums als Träger einer sozialen Rolle (zB der Präsident). Die Autobiographie beschreibt das Leben des noch nicht sozialisierten Menschen, die Geschichten seines Werden und seiner Bildung, seines Hineinwachsens in die Gesellschaft. Autobiographien führen in der Regel bis zu dem Punkt, an dem der Erinnernde seinen Platz in der Gesellschaft eingenommen hat (bzw. gefunden hat) und seine Rolle in ihr zu spielen beginnt. Eine Autobiografie sollte chronologisch nichts auslassen (Geburt-Kindheit-Jugend-Ausbildung-Karriere-Heirat-Alter), während Memoiren sich auf einen bestimmten Lebensabschnitt kaprizieren können. Memoiren bilden nicht so sehr den inneren Bildungsprozess ab der die Identitätsfindung des Verfassers nachzeichnet, sondern bilden dessen berufliche und in den meisten Fällen öffentlich bedeutsame Tätigkeit im Erwachsenenalter - etwa als Politiker, Wissenschaftler oder Künstler ab. Zudem sind Memoiren meist ein Versuch ein bestimmtes oder möglichst breites Publikum zu erreichen. Memoiren und Autobiografien ähneln sich aber in vieler Hinsicht sehr. Sie sind im Rückblick geschrieben, chronologisch aufgebaut und die Ereignisse werden so gedeutet, dass sie einen kohärenten Erzählstrang ergeben. Natürlich sind beide auch sehr subjektiv.

Der unterschied zwischen Autobiographie und Biographie ist, dass der Autor die Lebensgeschichte einer anderen Person erzählt während bei der Autobiographie der Autor seine eigene Geschichte erzählt.

Im Tagebuch blickt der Autor nicht von einem bestimmten Standpunkt in der Zeit zurück, sondern er geht mit der Zeit vorwärts. Es hält fest, was dem Verfasser an dem gegenwärtigen Erleben wesentlich erscheint. Es fehlt jedoch die Verknüpfung der Ereignisse, die sich erst aus der Retrospektive ergibt. Die Autobiographie ist ein einziges Schriftstück, eine Reihe von Eintragungen in ein Tagebuch stellen mehrere Schriftstücke dar. In einer Autobiographie wird ein ganzer Lebensweg oder zumindest ein wesentlicher Bestandteil desselben in umfassender Perspektive gesehen, in einem Tagebuch ist die zeitliche Tiefe unbedeutend. Überdies sind die Motivationen durchaus verschieden.

Im autobiographischen Roman verkleidet der Autor seine Selbstzeugnisse mit einem anderen Namen oder er nimmt Stoff aus seinem eigenen Leben, um ein bestimmtes Verhalten zu demonstrieren. Eine autobiographische Absicht ist hier jedoch nicht gegeben. Viele Romane übernehmen lediglich die Form der Autobiographie, sind jedoch keine.

5 Autobiographie als Quelle

Die eigene Lebensbeschreibung ist vielfach als geschichtliche Quelle angezweifelt worden. Ihr Wert mag auch hinsichtlich der übermittelten Tatsachen diskutierbar sein. Unbezweifelbar ist jedoch ihr Wert als Zeugnis der Lebensstimmung in einer Zeit und als Kundgabe ungeschminkter Gefühle, Ansichten und Aussichten an einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt. Die Autobiographie zeigt in dem, was sie sagt und verschweigt die deutlichste Spiegelung der letzten Einstellungen des Menschen zu seiner Umgebung, Zeit und den beherrschenden Gedanken und Gefühlen.

Der autobiographische Text ist folglich nicht mehr dem eigentlichen Lebenszusammenhang gleichzusetzen, er bildet diesen nicht einfach nur ab, sondern der Autor wertet die Elemente seines Lebens neu. Dies geschieht in einer Art und Weise, die im Augenblick des eigentlichen Geschehens nicht möglich gewesen wäre. Aus dem Rückblick werden bewusst oder unbewusst andere Akzente gesetzt. Manche Ereignisse werden stärker hervorgehoben, andere heruntergespielt oder ganz fortgelassen, je nachdem wie sie sich in den gedachten Lebenszusammenhang einfügen. Entscheidend ist, dass sich in jeder noch so kurzen Retrospektive Bewertungen und Bedeutungen von Ereignissen, Empfindungen und Wahrnehmungen verschieben und dementsprechend andere Lebens- und Wirkungszusammenhänge gedacht beziehungsweise konstruiert werden als im unmittelbaren Erleben selbst.

Der Autor wählt aus der jetzigen Deutung seines Selbst und seiner Erlebnisse heraus, das Erinnerte subjektiv aus und bewertet es neu. Das vergangene innere und äußere Leben wird als Weg zu dem gegenwärtig erreichten Stand der Selbst- und Welterkenntnis gestaltet. Dadurch ist es schwierig das Leben eines Autors zu erforschen, da man dessen Autobiographie nur begrenzt glauben kann. Aufgrund der Rückschau wo Ereignissen Bedeutungen zugemessen werden, die sie vielleicht nicht gehabt haben und der Lücken im Gedächtnis des Autors, besteht die Gefahr, dass das "Ich" idealisiert oder stilisiert wird und dass manches verschwiegen wird, um noch lebende Personen zu schützen.

Bei der Untersuchung von Erinnerungen von Menschen die eine zeitlang im Gefängnis oder im Lager inhaftiert waren, wurde festgestellt, dass die Texte sich untereinander erstaunlich geglichen haben. Weiters wiesen diese Parallelen zu den Memoiren von Häftlingen aus der Stalinzeit, sowohl in der Struktur als auch in der Auswahl der Themen, auf. Zum Teil sind sich die Erinnerungssequenzen so ähnlich, dass die Vermutung nahe liegt, es handele sich um Texte, die immer wieder reproduziert werden, zumal diese Personen die Memoiren aus der Stalinzeit in der Regel gut kannten. Aber selbst wenn hier bestimmte Geschichten von den Vorlagen "abgeschrieben" wurden, so können aus den Quellen dennoch Aussagen über das Selbst- und Weltbild ihrer Verfasser gewonnen werden. Die Anknüpfung an literarische Vorbilder ist hier folglich nicht nur ein Stilmittel, sondern hat sowohl für das Selbstverständnis der Verfasser als auch für unser Verständnis ihrer Texte eine Bedeutung.

Im Hinblick auf die Authentizität von Quellen ist zu betonen, dass in der erfahrungsnah entstandenen Selbstzeugnis, die Mentalität des Verfassers der des beschriebenen "Ich" weitgehend entspricht und bestenfalls - zB im über Jahre geführten Tagebuch - sogar Entwicklungen und Veränderungen derselben ablesbar sind. Im Gegensatz dazu setzt im retrospektiv erinnernden Text die schriftliche Verarbeitung erheblich später ein als die eigentliche Erfahrung, so dass hier vor allem die Empfindungen und Wahrnehmungen des schreibenden und nur ansatzweise die des beschriebenen "Ich" greifbar werden.

Die Verfälschung der Wahrheit ist ein Wesensmerkmal der Autobiographie; jedoch kann es auch aufschlussreich sein, die Einstellungen und deren Gründe zu untersuchen. So ist es zB von Nutzen, die Umstände der Veröffentlichung genauer unter die Lupe zu nehmen. Wurde die Autobiographie aus einem Tagespolitischen Anlass geschrieben, wer hat darauf Einfluss genommen und wer hat diese kritisiert, sind nur einige Fragen die sich der Quellenanalyst stellen kann. Vor allem der Herrausgeber wird bei der Veröffentlichung einer Autobiographie großen Einfluss nehmen. Er kann entscheiden welche Teile der Autobiographie weggelassen werden und welche Teile umgeschrieben werden müssen. Dies kann die Aussagen einer Autobiographie zum Teil wesentlich verändern. Weiters kann hinterfragt werden ob zB bei einer Übersetzung aus einer Fremdsprache alle Teile korrekt übersetzt wurden, oder ob wesentliche Aussagen abgeändert wurden.

Die Deutung autobiographischer Texte beinhaltet sowohl die Frage nach dem, was erzählt wird als auch wie der Autor oder die Autorin es tut und auf welche Weise das "Ich" sich in der Lebensgeschichte präsentiert.

Aufgrund dieser Kritik an der Quelle stellt sich nun die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, Autobiographien als historische Quellen heranzuziehen, und wenn, dann für welche Informationen. Bei der Diskussion um die Gestaltung und Struktur von Erinnerungstexten lässt bisweilen vergessen, dass autobiographische Zeugnisse wichtige Quellen für Sachinformationen sind. Wobei hier weniger die Datierung und Zeitfolge von Ereignissen gemeint ist, denn diese müssen aufgrund der Lückenhaftigkeit des Gedächtnisses stets nachgeprüft werden. Schriftliche wie mündliche Lebensgeschichten sind oftmals die einzigen Quellen, die uns über die Lebenswelt bestimmter Gruppen oder Schichten informieren. Sie enthalten Auskünfte über soziale und materiellen Verhältnisse oder kulturelle Praktiken. Dadurch können wir erfahren, in welchem sozialen Umfeld die Menschen aufwuchsen, wie sie wohnten, welche Werte in der Familie gepflegt wurden, welche Bildungsinstitutionen sie durchliefen, wie sie ihre Freizeit gestalteten, wie der Arbeitsalltag aussah oder wie der Haushalt organisiert wurde. Ebenso wie andere Ego-Dokumente (Tagebücher oder Briefe) erlauben uns Autobiographien wie kaum eine andere Quelle Innenansichten vom alltäglichen Zusammenleben der Menschen.

Autobiographien und Memoiren lassen ferner Einblicke in Erfahrungen, Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster historischer Subjekte zu was sie zu wertvollen Quellen macht. Aus autobiographischen Texten lassen sich Wertesysteme, Normen, Mentalitäten und Weltbilder rekonstruieren. Aus den vorangegangenen Ausführungen wird ersichtlich, dass der Umgang mit autobiographischen Quellen zahlreichen Einschränkungen unterliegt. Keineswegs haben wir es nur mit der direkten Umsetzung von individuellem und kollektivem Leben in Literatur zu tun.

Sowohl fiktionale Elemente als auch Genremerkmale, Erinnerungsstrukturen und Diskurse fließen in die Interpretation ein. Mit allen Fiktionen, überindividuellen Erinnerungsmustern, Beschönigungen oder Verdrängungen ist die Lebensgeschichte ein Entwurf des eigenen "Ich". Eben diese "narrative Selbstpräsentation" kann Gegenstand der Interpretation sein. Ohne seine Lebensgeschichte ist das "Ich" nicht denkbar. Diese dient der Herstellung einer stabilen Identität. Das heißt dass im menschlichen Bewusstsein die Fülle von Erlebtem und Erinnertem zu einem Ganzen zusammengefügt und integriert werden muss. Das Schreiben und Erzählen ist also einen Prozess der Subjektkonstitution.

Auch in der NS-Zeit stellen Autobiographien eine bedeutsame Quelle für die Rekonstruktion des jüdischen Lebens dar. Es werden nicht nur Informationen über den Alltag und die Lebensumstände, sondern auch über die jüdische Sicht der Umwelt zur Verfügung gestellt. Religiöse Einstellungen werden ebenso deutlich wie die Kontakte zu den Nichtjuden, die sich aus Nachbarschaften und dem Berufsleben ergaben, und sie lassen Traditionen, Veränderung, Assimilation und Integration genauso erkennen wie Ausgliederung und Verfolgung.

6 Beispiel einer gefälschten Autobiographie

Dass eine Autobiographie gefälscht sein kann und wie man so eine Fälschung auffliegen lässt, soll an nachfolgendem Beispiel gezeigt werden.

1995 wurde das Buch "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 bis 1948" von Binjamin Wilkomirski's im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp veröffentlicht. 1996 wurde das Werk in den USA sogar mit dem National Jewish Book Award der Sparte "Autobiographie/Erinnerung" ausgezeichnet und 1997 hat das Holocaust-Museum in Washington Wilkomirskis Zeugnis auf sechs Videobändern aufgezeichnet. Der Autor selbst trat bei vielen Gelegenheiten vor einem beeindruckten Publikum als Zeitzeuge und Experte auf und nannte mündlich die Namen der KZs, in denen er sich aufgehalten habe (Majdanek und Auschwitz). Seit 1998 besteht nun der Verdacht dass Wilkomirskis Werk gefälscht ist.

In der Zürcher Weltwoche wurde eine Recherche veröffentlicht welche anhand von Akten der Schweizer Behörden einen lückenlosen Lebenslauf Wilkomirskis präsentiert. Damit steht der schwerwiegende Verdacht im Raum, dass Wilkomirskis jüdische Identität und seine Behauptung, in deutschen Konzentrationslagern aufgewachsen zu sein, eine Erfindung ist.

Die Enthüllungen warfen insbesondere im deutschen und englischen Sprachraum hohe Wellen. Wilkomirski und seine Anhänger wiesen die Angriffe entschieden zurück, wobei der Autor des Artikels neue und überzeugende Fakten nachlegte, während Wilkomirski seine Darstellung nicht belegen konnte. Der Zürcher Historiker Stefan Mächler wurde später für eine umfassende Abklärung engagiert und dieser stellte klar, dass die Autobiographie tatsächlich in allen wesentlichen Punkten den historischen Fakten widersprach.

7 Quellen

Horn, A. (1998) Theorie der literarischen Gattungen: ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft. Würzburg

Küntzel, M. (1998) Bruchstücke deutscher Normalität: Wozu die "Affäre Wilkomirski" alles taugt.

URL: http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_98/46/27a.htm (30.6.2006)

Mahrholz, W. (1919) Der Wert der Selbstbiographie als geschichtliche Quelle. In: Niggl, G. (1998) Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt.

Rutz, A. (2002) Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen. In: Zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2 20.12.2002,

Schulze, W. (1996) Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin

Shumaker, W. (1954) Die englische Autobiographie. Gestalt und Aufbau. In: Niggl, G. (1998) Die Autobiographie: zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt.

Stephan, A. (2004) Autobiographien, Memoiren und Oral-History-Interviews als historische Quellen. In: Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas URL: www.vifaost.de/geschichte/handbuch (23.04.2006)