Georg Heyms Der Gott der Stadt

Essay by caipirina007University, Bachelor'sB+, November 2006

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I. Einleitung:

Die Gruppe der Großstadtlyrik gehört zu den umfangreichsten Sammlungen expressionistischer Lyrik und unterscheidet sich von den Darstellungen im Naturalismus, die eher realistisch, voll Mitgefühl und milieu-schildernd sind, grundlegend. Sie rückt völlig neue Aspekte des Stadtlebens, vor allem die Schattenseiten der urbanen Welt, in den Mittelpunkt.

Das Motiv Großstadt ist für Heym deshalb so interessant, weil es "Motivkreise wie Weltende oder Tod" zusammenbringt und auch durch die Miteinbeziehung wesentlicher Kennzeichen der Moderne "komprimierte Aussagekraft" 1 erlangt. Er scheint wie gebannt alle Impressionen und Bilder, die ihm die Stadt offeriert, zu sammeln und zu verarbeiten und trotz aller Skepsis gegenüber der neuen Welt, wie sie viele seiner Kollegen teilen, völlig fasziniert zu sein.

Im Folgenden möchte ich also einen Kurzüberblick über Heyms Leben und historische Hintergründe der Entstehungszeit seiner Dichtung geben, den Schwerpunkt meiner Betrachtungen aber auf das Bild der Stadt in Georg Heyms Gedicht "Der Gott der Stadt" legen, dieses in Zusammenhang mit der Situation der Großstädter, mythologischen und sakralen Elementen bringen und die dahinter verborgene Kritik aufzeigen.

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1 Vgl. Reinhardt - Steinke, Iris: Untersuchungen zur Lyrik der Moderne am Beispiel der Grosstadtgedichte

Georg Heyms. o.O. 1979, 92. (Dissertation der Universität Gießen)

ІІ. Hauptteil:

1. Kurzbiographie von Georg Heym

"Wie ein Komet war Georg Heym, der Berliner Frühexpressionist, am Himmel der modernen Dichtung aufgestiegen und versunken" 2 So lässt sich ziemlich treffend das Leben Georg Heyms, das auf tragische Weise schon in jungen Jahren ein Ende finden musste, beschreiben.

Georg Theodor Franz Arthur Heym wird am 30.Oktober 1887 als Sohn des Staatsanwaltes Herrmann Heym in Hirschberg in Schlesien geboren und besucht von 1893-1899 die Grundschule und später das Gymnasium in Posen und Gnesen. Als die Familie im Jahre 1900 nach Berlin übersiedeln muss, wechselt Heym auf das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf. Nach einem erneuten Schulwechsel folgen schließlich die Reifeprüfung am Gymnasium in Neuruppin und das Aufnehmen eines Jurastudiums in Würzburg. Im Herbst 1907 erscheint schließlich Georg Heyms Erstlingswerk " Der Athener Ausfahrt". Nach einem Universitätswechsel und der Rückkehr in die Großstadt Berlin tritt Georg Heym hier in den Neuen Club ein und legt somit den Grundstein für seinen späteren Ruhm. Hierauf folgen mehrere Veröffentlichungen unter anderem im "Demokrat", worauf der Rowohlt Verlag Leipzig aufmerksam wird und Georg Heym die Möglichkeit zur Veröffentlichung eines Gedichtbandes, der 1911 unter dem Namen "Der ewige Tag" erscheint, gibt. Während seines Studiums tritt Heym mehrfach im Neopathetischen Cabaret, einem weiteren Forum des Neuen Clubs, auf, das der Sprengkraft nicht entbehrt, belegt Sprachkurse in Englisch, Französisch und Chinesisch und bewirbt sich unter anderem als Fahnenjunker.

Zeit seines Lebens fühlt sich Heym" durch seinen Vater", der nichts für Poesie und Kunst übrig hat, sondern vielmehr Beamtenstolz und strenge Religiosität hochhält, "gehemmt" 3 und überträgt ihm darüber hinaus die Verantwortung für die zahlreichen örtlichen Veränderungen, die Georg Heym niemals die Chance zum "[W]urzeln" 4

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2 Vgl. Paul Raabe im Vorwort zu Schneider; Nina (Hg.): Georg Heym. Der Städte Schultern knacken.

Bilder, Texte, Dokumente. Zürich 1987.

3 Vgl. Greulich, Helmut: Georg Heym (1887-1912).Leben und Werk. Berlin 1931. In: Germanische

Studien. Heft 108, 9.

4 Vgl. ebd.

geben konnten. Auch die Schule ist für ihn kein Ort der freien Entfaltung, sondern vielmehr ausgerichtet auf die Unterdrückung von Individualität. Selbst später, als er in der Großstadt Berlin lebt, findet er nicht die Freiheit, die er sucht, sondern durchlebt eher die selbe Gespaltenheit, die auch die anderen Großstädter prägt und zur völligen Abneigung Heyms gegenüber der Großstadt führt.5Er erscheint bis zu seinem Tode als ein Mensch mit " Doppelgesicht" 6, einerseits geradezu schöpferisch und phantastisch, andererseits aber nüchtern und von Beruf und Dichtung unbefriedigt, in Gedanken und Werken stets "dem Tode zu innerst verhaftet" 7 .

So ist es kaum verwunderlich, dass nach dem tragischen Tod Heyms durch das Einbrechen beim Schlittschuhlaufen mit seinem Freund Ernst Balcke und dem Ertrinken der beiden in der Havel im Jahre 1912 davon gesprochen wird, dass Heyms "Leben und Werk" durch die Tatsache des Todes "zur Einheit"8 gebracht wurden.

Gerade dieser frühe und absurde Tod des 24jährigen erzeugte eine geradezu flutartige Fülle an Essays, Gedenkartikeln sowie Huldigungsgedichten, die zum gesteigerten Bekanntheitsgrad Heyms in der Öffentlichkeit wesentlich beitrugen.

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5 Anders urteilt hier jedoch Greulich, Berlin 1931, 54. Er vertritt die These, dass Gedichte wie

"Verfluchung der Städte V" ( H I, 225-226) auch eine positive Einstellung Heyms gegenüber der Stadt

durchblicken ließen, da hier deutlich werde, dass das "Wissen um die Süße der Stadt" coexistiere.

6 Vgl. Greulich, Berlin 1931, 35.

7 Vgl. ebd., 40.

8 Vgl. ebd., 40.

2. Historische Hintergründe zur

Entstehungszeit des Gedichtes

Die Gedichte Georg Heyms entstehen zur Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs, also einer Zeit, in der innen- und sozialpolitische Probleme wie beispielsweise die enorme Bevölkerungsexplosion oder Hungersnot der Unterschicht stark vernachlässigt werden. Darüber hinaus erfolgt eine zunehmende Isolierung und gleichzeitige Militarisierung, die schließlich im 1. Weltkrieg ihren Höhepunkt findet. Der ökonomische Aufschwung führt zur Ausdehnung von ehemals beschaulichen ruhigen Residenzstädten zu industriellen Ballungszentren, was die Menschen vor völlig neue Herausforderungen stellt. In dieser Zeit sind die Großstädte, vor allem Berlin als Zentrum des Expressionismus, aber auch München, Wien, Prag und Leipzig, geprägt von Massivität und Komplexität. Technischer, medizinischer und wissenschaftlicher Fortschritt, umgeben die Menschen mit völlig neuen Geräuschen und Anblicken (Straßenlärm, Leuchtreklame, Straßenbeleuchtung, Wolkenkratzer etc.) und verstärken somit die Umweltreize zusätzlich. Die Gesellschaft ist einerseits angezogen von den neuen Möglichkeiten und der Vitalität, die ihr die Stadt bietet, andererseits aber auch abgestoßen von der Orientierungslosigkeit, Reizüberflutung und Hektik, der die Menschen ausgesetzt sind. Sie fühlen sich entfremdet und verunsichert durch den vor sich gehenden Gesellschaftswandel in Form von Verelendung, Proletarisierung, Wohnungsnot, Massenmorden, Anonymität und zunehmendem Werteverlust. Ihnen fehlt die Möglichkeit zur freien Entfaltung und sie sehnen sich nach Ruhe, Natur und Menschlichkeit. Die Menschen wanken zwischen Faszination und Aversion und können ihre Skepsis oder gar Angst nur in Fluchtversuchen, Aufrufen zur Anarchie und Kritik in Form von Literatur, Architektur und Kunst ausdrücken. Gerade deshalb setzen sich die Expressionisten zum Ziel, eine Art Kunstrevolution zu schaffen, die der erstarrten wilhelminischen Gesellschaft den Wahnsinn entgegenstellt und durch absurde Kunst auf die Kaputte Wirklichkeit aufmerksam machen soll.

3. Die Stadtdarstellung in "Der Gott der Stadt"

a) Inhaltlicher Gesamtüberblick

Um sich das Bild der Stadt, das hinter Georg Heyms Werk Der Gott der Stadt steckt, zu verdeutlichen, muss man zunächst die Figur des "Baal" und seine Funktion durchleuchten, historische Gegebenheiten sowie mythologische und sakrale Symbolik in Betracht ziehen, um schließlich ein Bild der Stadt vor seinem inneren Auge zu entwickeln wie Georg Heym es vielleicht in seiner ursprünglichen Inspiration hatte9 und den tieferen Sinn bzw. die Kritik dahinter zu entdecken.

Geht man zunächst vom Titel aus, könnte man höchst wahrscheinlich einen die Stadt beschützenden, möglicherweise christlichen oder antiken Gott erwarten, der sanft und milde über die Stadt regiert und sie nur zu ihrem Wohle lenkt. Diese Vorstellung wird jedoch spätestens mit dem ersten der fünf Quartette, die mit jambischem Fünfheber und Kreuzreim in der Tradition der Form in Heym-Gedichten stehen 10, aufgehoben. Zunächst wird uns der Gott der Stadt als übergroßes Wesen vorgestellt, das "breit auf einem Häuserblocke" (H І,192/ V.1)11 sitzt, also die Körpergröße der Menschen bei weitem übersteigt und "voll Wut" (3) in Richtung Land schaut, während sich "Winde schwarz" um seine "Stirn lagern", die die Bedrohung, die von ihm ausgeht, unterstreichen.

In der zweiten Strophe wird eben dieser Gott der Stadt, der übrigens niemals beim Namen genannt wird, sondern nur als scheinbar für viele Städte übertragbarer "er"

(1) auftaucht, in seiner Machtposition beschrieben, indem Heym "die großen Städte" (6) um ihn her "knien" (6) und die Glocken läuten lässt. Diese Huldigung setzt sich auch in

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9 Vgl. Schneider, Zürich 1987

K.L. Schneider vermutet, dass die Federzeichnungen von Heinrich Kley (1863-1945), die im Jahre

1909 im Simplicissimus erschienen sind, Heym zu seinem Gedicht "Der Gott der Stadt" unmittelbar

angeregt hätten.

10 Vgl. Rölleke, Heinz: Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl. Köln 1965, 82. (Dissertation der

Universität Köln). Abweichungen von der für Heym typischen Form erfolgen hier nur durch eine

Unregelmäßigkeit im Versmaß in der dritten Strophe ("der Millionen"). Nicht zuletzt deshalb wird

Heyms Stil oft als Negation der Formabwandlung betrachtet.

11 Heym, Georg; Karl Ludwig Schneider (Hg.): Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Band 1:

Lyrik. Hamburg 1964. Im Folgenden zitiere ich aus dieser Quelle durch Angabe der Verszahl im

laufenden Text.

der folgenden Strophe fort, wenn die Menschen tanzen und laute Musik machen, um ihn zu ehren. Dennoch scheint dieser hier als "Baal" 12,13 (5) betitelte Götze nicht darauf einzugehen, sein "Zorne" (16) steigert sich ins grenzenlose, bis er schließlich seine "Fleischerfaust" 14(17) ausstreckt, um die Stadt zu vernichten.

b) Die Figur des Baal

Das Bild, das uns hier vom Gott der Stadt vermittelt wird, ist also, wie die bisher angeführten Merkmale verdeutlichen, keinesfalls das eines Beschützers und Wohltäters der Menschen, sondern vielmehr das eines mächtigen furchteinflößenden Götzen, der die Stadt in Angst und Schrecken versetzen kann. Er verkörpert eine alles beherrschende Großstadtgewalt, deren "Wut"(3) weder durch "gebetsähnliche Ergebenheit" noch durch "Weihrauchopfer" in seinem Zorn zu besänftigen ist und es letztendlich zur "zerstörerischen Wendung gegen die Stadt"15 kommt, was dem Bild von Dämonen ähnelt, die über der Stadt "als Inkarnation des unausweichlichen Schicksals thronen".16 Obwohl er in seiner Gesamtheit und seinem Tun detailgetreu, ja nahezu plastisch, geschildert wird, ist er optisch nicht genau festzulegen, da er einerseits menschliche ["Augenbrauen"(13), "Fleischerfaust"(17), Haupthaar"(16)], andererseits aber übernatürliche Züge innehat, teilweise fast animalisch wirkt und sich sein Aussehen seiner Umgebung anzupassen scheint bzw. er diese beeinflusst (" glänzt der rote Bauch", seine Wut steigert sich parallel zur Wetterlage "Wind", "wogt", "schwelt", "Sturm")17. In Bezug auf die Grausamkeit und zerstörerische Energie18 dieses Wesens kommen fast alle Untersuchungen zum selben Ergebnis, nämlich, dass der Gott der Stadt sowie auch die Dämonen in anderen Großstadtgedichten Heyms die Menschen zwar ängstigen, jedoch nicht töten wollen.19 Seine bedrohliche Ausstrahlung wird

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12 Vgl. DUDEN. Das Fremdwörterbuch. 7., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim u.a.

2001, 112. "[Der Begriff] [...] Baal [bezeichnet im] "biblisch[en Sinne] meist [...] heidnische

Götter".

13 Vgl. Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart (Hg.): Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers .

Stuttgart 1985.Richter, VI/25-32 und Jeremia LI/44. "Baal" ist hier der Götze schlechthin.

14 Laut Kemper, Hans-Georg; Vietta, Silvio: Expressionismus. Zweite bibliographisch ergänzte

Auflage. München 1983, 52. drängt sich hier der Vergleich mit der Darstellung des Zeus in den

Homerischen Epen auf, wenn dieser "vom Idagebirge herunter seine Blitze schleudert".

15 Vgl. Giese, Peter Christian: Interpretationshilfen . Lyrik des Expressionismus.

Stuttgart ; Dresden 1992,53.

16 Vgl. Greulich, Berlin 1931, 53.

17 Vgl. Rölleke, Köln 1965, 182.: Es sei für Heyms Dämonen charakteristisch, dass sie ihr Aussehen

entsprechend ihrer Umwelt veränderten, [...]

18 Vgl. Kemper/Vietta: München 1983, 52.

19 Vgl. Rölleke, Köln 1965, 183.

insbesondere dadurch verstärkt, dass "er" durchgehend in Verbindung mit der für Heym typischen Farbsymbolik ["schwarz um seine Stirn"(2), "der rote Bauch"(5), "ins Dunkel"(17), ] und Substantiven, die übermächtige Naturgewalten beschreiben ["Meer"(8), "Stürme"(15),"Glutqualm"(19)] geschildert wird. Darüber hinaus trägt die Ausgangssituation der Stadt im Gedicht zur Verstärkung dieses Effektes bei: diese wuchert "rücksichtslos und unbarmherzig"20, sodass sich nur noch wenige "Häuser in das Land verirrn"(4) 21 und die Industrierevolution schreitet unaufhaltsam und unerbittlich voran ["der Schlote Rauch"(11)22, "Fabrik"(11)]. Die für Heyms

pessimistische Sicht der damaligen Zeit23 charakteristische Endzeitstimmung drückt sich auch in den erwähnten Tageszeiten aus, da die Dichtung mit "Abend" und

Sonnenuntergang24 beginnt und über "dunkle[n] Abend" "in Nacht betäubt"

verschwindet 25, wobei Dunkelheit oft mit Bedrohung, Angstgefühlen oder gar auswegsloser Katastrophe assoziiert wird.

Das Auffällige dieser Darstellung besteht also darin, dass hier in der Literatur bekannte und gerne verwendete Motive verfremdet und der Erwartungshorizont des Lesers völlig destruiert werden, wobei sich durch die Konfrontation dieser Motive mit neuen Inhalten wie hier vorgeführt der Großstadt eine neue Spannung innerhalb des Gedichtes entwickelt .26

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20 Vgl. Eberling, Rolf D. Studien zur Lyrik des Expressionismus. Freiburg Im Breisgau 1951, 27.

(Dissertation der Universität Freiburg)

21 In Kemper/ Vietta, München 1983, 55. wird noch eine weitere Deutung des Verirrens aufgezeigt,

die in der Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit des modernen Großstadtmenschen bestehe.

22 Dieses Bild des Rauches, der zum Gott der Stadt empor steigt, wird sehr oft als " Parodie eines

sakralen Opfers" aufgefasst; allerdings unter Vorbehalt. So auch in Kemper/ Vietta,

München 1983, 54.

23 Vgl. Reinhardt - Steinke, o.O. 1979, 102. Kommentar zu: Heym, Georg; Schneider, Karl Ludwig

(Hg.): Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Band 3 Tagebücher, Träume, Briefe. Hamburg

1960, 138 . (06.07.1910) Dieser Tagebucheintrag zeige Heyms Abwehrhaltung gegenüber der

damaligen gesellschaftlichen Zustände, Langeweile werde zum quasi-historischen Zustand, die

Spannung zwischen Ich und Welt scheine sich stetig zu steigern

24 Vgl. Rölleke, Köln 1965, 93. Stimmungshafte Elemente und Motive wie Sonnenuntergang oder

Mondschein würden bei Heym oft von ihrer ursprünglichen Funktion entfremdet werden.

25 Vgl. Giese, Stuttgart 1992, 53. Diese Entwicklung sei symbolisch für die "Spätzeit" oder

Endzeitstimmung zu sehen, jedoch eben nicht als Weltende, da der "Morgen [ja noch ]tagt" , nicht

alles völlig zerstört werde und die Welt nicht untergegangen sei.

26 Vgl. Kemper/ Vietta, München 1983, 53.

c) Die Darstellung der Stadt und ihrer Bewohner

Die Stadt, die hier als Gesamtheit und nicht nur als Ausschnitt wie in anderen expressio-nistischen Gedichten [z.B. Georg Heyms "Vorortbahnhof (Berlin VІ)",H I,102] betrachtet wird, erscheint angesichts der ständigen Präsenz des Gottes hilflos und ohnmächtig und vermittelt somit ein Bild völliger Unterwerfung und Trostlosigkeit. Das Bild der Korybanten27 taucht in Heyms Dichtung auf, da sich das Verhalten der ursprünglichen Korybanten als Priester der Göttin Kybele, die jene vor allem als Begründerin der Städte mit orgiastischen Riten und lärmender Musik feierten, im weitesten Sinne auf die Großstadtbevölkerung übertragen lässt. Weiterhin ist zur Rolle der Menschen zu bemerken, dass das Individuum in Heyms Dichtung stark, wenn nicht sogar völlig in den Hintergrund tritt, was durch das Fehlen eines lyrischen Ichs beispielsweise verdeutlicht werden kann, und die Bevölkerung nur noch als chaotische Masse in Form von "Millionen" (10) gewürdigt wird, deren Lebensmittelpunkt 28 ["knien um ihn her" (6)] eben dieser übermächtige, dämonisch wirkende Gott der Stadt und dessen Huldigung bilden. Die Vorstellung eines Gottes im christlichen Sinne, der das Huldigen eines falschen heidnischen Gottes29 strafen würde, existiert hier nicht, denn Baal ist der einzige, der mit seiner "Fleischerfaust"(17) sowohl die Menschen als auch die Natur [" Winde"(2), "Stürme"(15), "Rauch"(11)] zu regieren scheint. Er bildet jedoch nicht nur in seiner Machtposition einen Gegensatz zu den Bewohnern der Stadt, sondern unterscheidet sich auch stark in seiner Bewegungsform von ihnen. Während er auf seinem Häuserblock "sitz" und sich alles an"schaut", also eher ruhig ist, ziehen die Bewohner scheinbar hektisch durch die Straßen.

Abschließend lässt sich dieses Gedicht also als düsteres Stimmungsbild deuten, in dem die Bewohner sich ständig in Angst und Schrecken wägen müssen, jedoch völlig macht-los gegen den Zerstörungswillen und die Willkür des "Baal"sind. Das Bild der Stadt ist der Vorstellung der Hölle30 im Volksmund nachempfunden und hat darüber hinaus eine ähnliche Wirkung auf seine Bewohner. Die Objektwelt wird dämonisch belebt während das Subjekt zu einer verdinglichten und entindividualisierten Kreatur31 verkommt.

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27 Vgl. Rölleke, Köln 1965,188 und Microsoft Encarta Enzyklopädie Standard 2003

28 Vgl. Rölleke, Köln 1965,134.: Das Kreismotiv, das hier durch das "im Kreis um den Gott herum-

knien" auftaucht, sei typisch für Heym und symbolisiere das sinnlose Treiben der Menschen im

Lauf des Stadtalltages, ihre Ohnmacht und das "getrieben sein" und tauche z.B. auch in "Die

Dämonen der Städte" ("...um ihre Füße kreist das Ritornell /des Städtemeers..., Z.13/14, HI, 186)

als gewisser Weise strukturtragendes Element auf.

29 Vgl. Giese, Stuttgart 1992, 53.

30 Vgl. Rölleke, Köln 1965, 191/192.

31 Vgl. Vietta, Silvio (Hg.): Lyrik des Expressionismus. Tübingen 1990, 31.

d) Die Aussage der Bilder

Betrachtet man die von Heym vorgezeichnete "mythische Personenallegorie" 32 eindringlicher, muss man zu dem Schluss kommen, dass der Gott der Stadt eine tiefergehende Bedeutung hat. Diese besteht insbesondere in der Verkörperung der Großstadt an sich33 sowie ihrer alles beherrschenden Gewalt. Die völlig neuen und fast schon unheimlichen Mächte der Stadt finden sich hier in der Gestalt des Gottes der Stadt personifiziert34.Er steht also für alles, was sich die Menschen an Vernichtungspotenzial geschaffen haben, jedoch zu erkennen nicht fähig sind und wirkt deshalb so fremd und übermächtig auf sie ein. Hinter Heyms Dichtung steckt demnach viel mehr, als das bloße Auge zunächst erkennen mag: eine Art kritischer Diagnose des Großstadtlebens und das Aufzeigen der selbstzerstörerischen Tendenz der Zivilisation.35 Dieser "gestaltgewordene Protest" 36 gipfelt in einer nahezu apokalyptischen Zerstörungsdarstellung, die sich vorzugsweise gegen Industrialisierung und technischen Fortschritt wendet37. Über den prophetisch-visionären und auch gesellschaftskritischen Charakter dieser Dichtung gibt es allerdings Kontroversen in der Heymforschung. Einerseits wird die mythische Form als "poetisch verfremdetes Gegenbild zu einer Wirklichkeit", also als Leiden am Zeitalter und kritische Darstellung bezeichnet, andererseits aber als "Abbild eben dieser Wirklichkeit"38, als zerfallene Welt und Sinnlosigkeit erkannt. Heinz Rölleke 39 jedoch kommt zu einem völlig anderen Schluss in Bezug auf Heyms Zivilisationskritik. Er vertritt die These, dass die subjektiv-pessimistische Sicht des Dichters in Bezug auf seine Umwelt und vor allem sein isoliertes Dasein seine Betrachtung der Großstadt zu stark beeinflusst hat, sodass man diese negative Einstellung seiner Meinung nach nicht als allgemeine Tendenz verstehen sollte.

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32 Vgl. Kemper/ Vietta, München 1983, 52.

33 Vgl. Rölleke, Köln 1965, 186. In der Antike stehe ein Gott oft für das Wesen an sich, obwohl er

persönlich anwesend sei. Verdeutlicht werde dies exemplarisch durch Ares, der im Trojanischen

Krieg selbst gekämpft und zugleich auch das Wesen des Krieges an sich repräsentiert habe.

34 Vgl. Giese, Stuttgart 1992,52.

35 Vgl. Giese, Stuttgart 1992,54.

36 Eine weitere Deutungsmöglichkeit findet sich in Korte, Hermann: Georg Heym. Stuttgart 1982,56.

In: Sammlung Metzler. Realien zur Literatur, Band 203. Die dichterische Mythologie könne auch

fatalistisch gedeutet werden: Mythos werde als naturverhängtes, ewiges Schicksal gedeutet,

wogegen der "Protest" immer ein vergeblicher sei.

37 Vgl. Korte, Stuttgart 1982,52.

38 Vgl. Roebling, Irmgard: Das Problem des Mythischen in der Dichtung Georg Heyms. Frankfurt am

Main 1975,21-23.

39 Vgl. die Kritik zu Röllekes Theorie in Kemper/ Vietta, München 1983, 55-56.

Aufgrund dieser persönlichen Empfindung Heyms, die auch in seinen Tagebüchern immer wieder festgehalten ist, werden seine Gedichte hin und wieder als Aufruf zur Landflucht, wie sie ein Richard Dehmel in seiner "Predigt an das Stadtvolk" propagierte, verstanden, entsprechen jedoch nicht Heyms Intention, was sich auch unschwer daran erkennen lässt, dass Heym selbst trotz seiner Kritik in der Großstadt Berlin lebt und arbeitet.

Gerade deshalb kann man seine Dichtung durchaus als Zivilisationskritik mit einer leicht prophetischen Tendenz verstehen, da Heym mit solchen "dämonisierten" Dichtungen vor allem das selbstzerstörerische Wesen den modernen Welt und des Fortschritts aufzeigen und deren Verselbständigung entgegen wirken will.

ІІІ. Schluss

Georg Heym zeigt hier folglich mit kritischem Blick den Entwurf einer Großstadt, die symbolisch für alle Großstädte seiner Zeit nahezu als Geißel der Menschheit präsentiert wird. Ihm unliebsame Prozesse beobachtet Heym genau und gibt sie auf kunstvolle Art und Weise wieder. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung stehen gerade die Entwicklungen, die den Menschen zunehmend eingrenzen, deren Ohnmacht begründen und auf dem Weg zur Verselbständigung sind.

Sein Werk "Der Gott der Stadt" wirkt deshalb, wie zahlreichen Deutungen übereinstimmen, stark gesellschaftskritisch, wenn er das Bild eben jenes dämonischen Gottes "heraufbeschwört" und auf das Wesen der Stadt überträgt, die die moderne Welt genauso kultisch verehrt wie den Götzen im Gedicht. Dennoch bleibt die Darstellung Heyms etwas einseitig, da er nur die negativen Entwicklungen und Erfahrungen der Stadt thematisiert, von verarbeitetem Subjektivismus kann jedoch nicht die Rede sein.

Von Heyms verschiedenen Großstadtbildern40 , die er im Laufe der Zeit entworfen hat und die alle die Gemeinsamkeit eines Negativbildes der Stadt inne haben, kann man diese Dichtung, in der der Götze auf dämonische Weise die Stadt beherrscht, deren einzige Perspektive in ihrem Untergang besteht, als eines der pessimistischsten Werke Heyms bezeichnen. Trotz allgemeiner Zustimmung in der Forschungsliteratur zu Heyms Verarbeitung von Missständen in seiner Dichtung, wird er oft für seine Tatenlosigkeit kritisiert, da er diese zwar erkennt, jedoch weder Vorschläge zur Bewältigung macht noch sich zum Sprachrohr politischer Opposition macht. Dennoch ist die Bildlichkeit, die hier aufzuzeigen versucht wurde, einmalig und mit den verschiedenartigsten Elementen so kunstvoll verwoben, dass Heym zu Recht als "Komet am Himmel der modernen Dichtung bezeichnet werden kann.

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40 Vgl. Reinhard-Steinke, o.O. 1979,92-130. Bekannte Bilder Heyms sind "die Stadt als Impression",

"Die Totenstadt", "Die hässliche Stadt" und die hier vorliegende "dämonenbeherrschte Stadt".

Literaturverzeichnis:

1. Quellen:

HEYM, Georg; Karl Ludwig Schneider (Hg.): Dichtungen und Schriften.

Gesamtausgabe.

Band 1: Lyrik. Hamburg 1964.

Band 3: Tagebücher, Träume, Briefe. Hamburg 1960.

DEUTSCHE BIBELGESELLSCHAFT STUTTGART (Hg.): Die Bibel nach der

Übersetzung Martin Luthers . Stuttgart 1985.

2. Darstellungen:

EBERLING, Rolf D. Studien zur Lyrik des Expressionismus. Freiburg Im Breisgau

1951. (Dissertation der Universität Freiburg)

GIESE, Peter Christian: Interpretationshilfen . Lyrik des Expressionismus.

Stuttgart ; Dresden 1992.

GREULICH, Helmut: Georg Heym (1887-1912).Leben und Werk. Berlin 1931.

In: Germanische Studien. Heft 108.

KEMPER, Hans-Georg; VIETTA, Silvio: Expressionismus. Zweite bibliographisch

ergänzte Auflage. München 1983.

KORTE, Hermann: Georg Heym. Stuttgart 1982.

REINHARDT-STEINKE, Iris: Untersuchungen zur Lyrik der Moderne am Beispiel der

Grosstadtgedichte Georg Heyms. o.O. 1979 (Dissertation der Universität Gießen).

ROEBLING, Irmgard: Das Problem des Mythischen in der Dichtung Georg Heyms.

Frankfurt am Main 1975.

RÖLLEKE, Heinz: Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl. Köln 1965, 82. (Dissertation

der Universität Köln).

SCHNEIDER, Nina (Hg.): Georg Heym. Der Städte Schultern knacken. Bilder, Texte,

Dokumente. Zürich 1987.

VIETTA, Silvio (Hg.): Lyrik des Expressionismus. Tübingen 1990.

3. Lexika und Wörterbücher:

DUDEN. Das Fremdwörterbuch. 7., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim

u.a. 2001.

MICROSOFT Encarta Enzyklopädie Standard 2003

Abkürzungsverzeichnis:

H І: HEYM, Georg; Schneider, Karl Ludwig (Hg.): Dichtungen und Schriften.

Gesamtausgabe. Band 1: Lyrik. Hamburg 1964.